Freundlichkeit – Fremdwort oder Tugend?
In einer Zeit, in der sich viele gesellschaftliche Debatten zuspitzen, der Ton in der Öffentlichkeit rauer wird und im Alltag zunehmend Rücksichtslosigkeit regiert – sei es im Straßenverkehr, in Online-Diskursen oder in der Politik – drängt sich eine Frage auf: Ist Freundlichkeit noch zeitgemäß? Oder gilt sie als naiv, schwach, gar hinderlich im Streben nach Erfolg?
Härte als Erfolgsrezept?
Die öffentlichen Vorbilder scheinen häufig ein anderes Bild zu zeichnen: Dominanz, Kampfgeist, Ellenbogenmentalität. Die durchsetzungsstarken „Macher“, oft männlich konnotiert, gelten als Prototyp erfolgreicher Persönlichkeiten. Freundlichkeit dagegen wirkt – zumindest auf den ersten Blick – wie ein Relikt vergangener Zeiten. Wird sie Frauen oder „weichen Charakteren“ zugeschrieben, fällt sie schnell in die Kategorie: nett, aber nutzlos. In einem Klima wachsender Unsicherheiten und zunehmender Polarisierungen erscheint sie fast schon als Schwäche – als ob Freundlichkeit der Realität nicht mehr standhielte.
Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Sie ist nicht nur historisch verkürzt, sondern auch wissenschaftlich überholt.
Evolutionäre Stärke durch Kooperation
Die Verhaltensbiologie zeigt ein ganz anderes Bild: Es war nicht Aggression, sondern Kooperation, die dem Menschen das Überleben sicherte. Freundlichkeit, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, sich gegenseitig zu helfen und Beziehungen zu pflegen, war ein entscheidender Überlebensvorteil in einer lebensfeindlichen Umwelt. Der Begriff „Survival of the friendliest“ ist dabei kein sentimentales Wunschdenken, sondern ein zunehmend belegtes Prinzip menschlicher Entwicklung.
Auch im mittelalterlichen Ehrenkodex der Ritter war Freundlichkeit keineswegs ein Luxus – sie zählte neben Tapferkeit und Demut zu den anerkannten Tugenden. Der soziale Kitt, der Gemeinschaften zusammenhält, war eng mit respektvollem Umgang, gegenseitiger Unterstützung und Maß verbunden. Erst mit der Verdrängung solcher Tugenden durch neue Gesellschaftsmodelle – inklusive rigider Geschlechterrollen – wurde Freundlichkeit mehr und mehr ins Private verlagert und abgewertet.
Pandemie als Gegenbeweis
Ein eindrückliches Beispiel für die Wirksamkeit von Freundlichkeit lieferte die Coronapandemie. Trotz enormer Belastungen und Verunsicherungen zeigte sich vielerorts eine neue Form der Fürsorge: Nachbarn kauften füreinander ein, Fremde lächelten sich unter der Maske zu, Familien wuchsen über digitale Entfernungen zusammen. Freundlichkeit wurde zur Ressource der Stabilisierung – zur spontanen Antwort auf kollektive Überforderung.
Gerade in Zeiten der Krise entfaltete sie ihre Kraft: nicht laut, nicht heroisch, aber nachhaltig. Sie stärkte die Resilienz der Gemeinschaft – dort, wo Systeme ins Wanken gerieten.
Ein Plädoyer für zeitgemäße Freundlichkeit
Angesichts gegenwärtiger Herausforderungen – zunehmender Polarisierung, dem Aufstieg populistischer Rhetorik, wachsender sozialer Spaltung – stellt sich nicht mehr die Frage, ob wir es uns leisten können, freundlich zu sein. Sondern vielmehr: Ob wir es uns leisten können, es nicht zu sein.
Freundlichkeit bedeutet nicht Schwäche, sondern bewusste Entscheidung. Sie schafft Verbindung, wo Trennung droht. Sie entwaffnet Konflikte, wo Konfrontation eskaliert. Und sie beginnt im Kleinen: im Ton, im Blick, im Zuhören. Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es hinaus – eine Lebensweisheit, die mehr Relevanz hat denn je.
Fazit: Freundlichkeit als Zukunftsstrategie
Es ist höchste Zeit, Freundlichkeit als das zu begreifen, was sie ist: eine soziale Intelligenzleistung mit echtem Veränderungspotenzial. Nicht als Sentimentalität, sondern als Tugend mit Wirkung. Im Privaten wie im Beruflichen. In der Politik wie auf der Straße.
Vielleicht ist es an der Zeit, den Begriff der Stärke neu zu definieren: nicht als Lautstärke, sondern als Empathie. Nicht als Durchsetzung um jeden Preis, sondern als souveräne Zugewandtheit. Freundlichkeit ist kein Rückschritt – sie ist ein zukunftsfähiger Fortschritt.
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